Ein Wiedersehen mit der Hohenemser Diaspora

Reunion 2008 – ein Treffen von Nachkommen der Hohenemser Juden

Vom 31. Juli bis 3. August waren 130 Nachkommen jüdischer Familien aus Hohenems in Vorarlberg zu Gast. Vier Tage lang haben Sie an der Reunion 2008, dem zweiten großen Hohenemser Nachkommen-Treffen teilgenommen. Viele mussten von weither anreisen, aus den USA oder Australien, Israel oder Canada. Andere kamen aus Europa, aus der Schweiz und aus Italien, aus Deutschland oder Groß Britannien, aus Frankreich, Belgien oder Liechtenstein, ja sogar – aus Vorarlberg.

Gemeinsam ist ihnen ein waches Interesse an ihrer Geschichte, an ihren Vorfahren und an jenem Ort, an dem sie 300 Jahre lang eine blühende jüdische Gemeinde aufgebaut hatten. Hohenems: eine kleine Stadt in den Alpen, an dem Menschen unterschiedlicher Religion mit allen Schwierigkeiten und Konflikten doch ein gemeinsames Leben geführt haben, in dem zwischen Judengasse und Christengasse keine Ghettomauern standen, sondern Beziehungen bestanden, geprägt von Interessen und wachsenden Freundschaften, häufig aber auch von Ressentiments und vom Hochmut der Mehrheit gegenüber einer Minderheit, der man die Erfolge neidete, von denen man selber zugleich profitierte.

Gemeinsam mit vielen interessierten Menschen aus der Bodenseeregion feierten Nachkommen der Hohenemser Juden nun ihre Diaspora. Es war ein Wiedersehen mit Vergangenheit und Gegenwart, mit ihrer Vielfalt im Guten wie im Bösen, aber auch mit der Vielfalt einer Welt, die von Migration lebt, heute mehr denn je.

Beim Treffen sprachen neben Vertretern der Nachkommen, wie Luisa Jaffé-Brunner, Pierre Burgauer, Susan Rosenthal Shimer und Uri Tänzer, unter anderem auch Vorarlbergs Landeshauptmann Dr. Herbert Sausgruber, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, Esther Fritsch, und der Bürgermeister, Richard Amann, Wien Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny und  der Schriftsteller Michael Köhlmeier. Auf dem Programm standen Workshops und Konzerte, Führungen durch das Jüdische Museum und das einzigartige Jüdische Viertel von Hohenems. Mit St. Gallens Rabbiner Hermann Schmelzer traf man sich zum Kaddisch, zum Totengebet auf dem gut erhaltenen jüdischen Friedhof. Und man sprach den Kiddusch, das Schabbatgebet in der ehemaligen Snyagoge, die nun als Salomon-Sulzer Saal, restauriert nach Jahren der Zweckentfremdung als Feuerwehrhaus, nun als Musikschule und Kultursaal dient. Rabbinerin Lisa Goldstein aus San Diego, eine Urenkelin des Hohenemser Kantors Jakob Weil, feierte gemeinsam mit Kantorin Marlena Tänzer aus New Jersey und vielen Teilnehmern den Beginn des Schabbats, so wie es Rabbiner Tänzer und Jakob Weil vor hundert Jahren taten. Und sie erinnerten zugleich daran, dass die Hohenemser Synagoge keine Synagoge mehr ist und jüdisches Leben auch hier im Lande ganz von vorne beginnen muss.

Die meisten Vorfahren der Hohenemser Nachkommen haben Hohenems schon im 19. Jahrhundert verlassen. Die Brunner und Rosenthals, Bernheimer und Reichenbachs, die Landauer und Burgauer, Bollags und Tänzers, Moos und Löwenbergs, Löwengards und Hohenemser, Dannhauser und Weils: Bis heute haben sie eine Beziehung zu Hohenems und seiner großen jüdischen Geschichte bewahrt – auch wenn sie längst Europäer, Amerikaner, Australier, Israelis und Weltbürger geworden sind. Mit der Gründung des Jüdischen Museums 1991 hat diese weltweite „virtual community“ wieder einen gemeinsamen Fokus, einen institutionellen Mittelpunkt.

1938-1942 endete die dreihundertjährige Geschichte der Jüdischen Gemeinde von Hohenems mit Flucht und Deportation. Zwischen 1945 und 1954 folgte das Nachspiel der DP-Gemeinde, als mehr als 1000 Überlebende, Displaced Persons, in Hohenems und Bregenz eine Zwischenstation ihrer Wanderung in die USA, nach Antwerpen oder nach Israel erlebten. Mit dem Ende der DP-Zeit und der alliierten Besatzung gab es keine Jüdische Gemeinde mehr in Hohenems. Die Synagoge wurde zum Feuerwehrhaus umgebaut und eine Tafel angebracht, die den Bau des Gebäudes auf das Jahr 1955 verlegte.

Jüdische Familien aus Hohenems, ob in Übersee wie Stefan Rollin, der 1998 die American Friends of the Jewish Museum Hohenems ins Leben rief, oder in St. Gallen, wie die Burgauer und Landauer, sie haben trotz dieser traumatischen Ereignisse eine Beziehung zu Hohenems aufrechterhalten. Sie haben schon 1954 den Hohenemser Jüdischen Friedhof in ihre Obhut genommen und vor dem Verfall bewahrt – und über viele Jahre mit einzelnen Familien, aber auch mit jenen kritischen Historikern Kontakt bewahrt, die die Auslöschung des Gedächtnisses dieser in ganz Europa vernetzten Gemeinde nicht mitmachen wollten.

Erst mit der Eröffnung des Jüdischen Museums 1991 bekam die Erinnerung an dies historisch bedeutendste jüdische Gemeinde in Österreich westlich von Wien wieder einen sichtbaren Ort, ein Zentrum der Kommunikation, auch für die Nachkommen. Aus dem Museum ist inzwischen ihr kollektives Familiengedächtnis geworden, Gedächtnis und Archiv der Hohenemser Diaspora, die sich auf alle Kontinente verteilt hat. Hatten ihre Vorfahren Hohenems oft schon im 19. Jahrhundert verlassen, so blieb doch die kleine Stadt im Dreiländereck zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz ihr Bezugspunkt. Und für viele ist er es noch heute.

1998 fand ein erstes weltweites Treffen in Hohenems statt. Doch während das letzte Treffen vor allem nach Innen gewendet war, sollte diesmal auch die Kommunikation mit den Menschen vor Ort, der Austausch über die Geschichte und die Gegenwart eine wichtige Rolle spielen. Workshops in der ehemaligen Synagoge gaben Gelegenheit zum Gespräch im kleinen Kreis, mit Menschen aus der Region, die mehr wissen wollen über jüdische Existenz und Widersprüche, über das Leben der Menschen, die zu Besuch kamen.

Viele Hohenemser Juden haben Angehörige in der Shoah verloren, auch dann wenn ihre eigene Familie vielleicht in Sicherheit war. Und einige wenige erinnern sich selbst noch an Hohenems, wie Harry Weil, der als Kind vor den Nazis 1939 erst in die Schweiz floh und dann in die USA emigrierte. Oder an ihre Flucht aus Wien, wie Sue Rosenthal-Shimer, die als Kind in die USA floh, und Francis Wahle, der – selbst schon getauft, aber von den Nazis als Jude stigmatisiert – mit einem Kindertransport nach London gerettet wurde. Sie und viele andere haben – in europäischen und weltweiten Netzwerken zugleich – dennoch ein prosperierendes Leben einer großen Diaspora-Gemeinde quer über die Kontinente aufgebaut.

 

Susan Rosenthal-Shimer und der Schriftsteller Michael Köhlmeier, der in Hohenems lebt, erinnerten beim festlichen Ausklang in der ehemaligen Rosenthal-Fabrik – im Hohenemser Schwefel, dort wo die allerersten Juden sich nach 1617 niedergelassen und ihren Friedhof errichtet hatten – an die Fragen der Gegenwart. Ja, es ist leicht, sich an die Toten von damals zu erinnern, an ihren „großartigen Beitrag“ zur Geschichte, aber zu lernen, mit den „Fremden“ von heute eine Beziehung aufzubauen, die von Respekt und Anerkennung getragen ist, und nicht von Ausgrenzung, dass sei eine ungleich schwerere Aufgabe. Und darauf käme es an. Nicht nur auf den verklärten Blick zurück.

 

Am Sonntag hielt Father Francis die Predigt in der Hohenemser Pfarrkirche St. Karl. Es war alles andere als ein Zufall, dass der katholische Priester der Diözese Westminster aus London in Hohenems zu Besuch war. Auch Father Francis Wahle ist ein Nachkomme jener Brunner, die einst die Geschicke in Hohenems mit bestimmten, bevor sie sich in alle Welt zerstreuten. Sein Vater, ein Richter in Wien, war konvertiert, seine Mutter war Jüdin geblieben. Er selbst, getauft und christlich erzogen, wurde 1939 wie seine Schwester mit einem Kindertransport nach England vor den Nazis gerettet. Seine Eltern überlebten im Versteck. Und er wurde katholischer Priester in England. Doch seine Predigt widmete er dem Umgang mit den Fremden und Andersgläubigen von heute – und der Frage, warum es noch immer so schwer ist, dem Anderen sein Anderssein zu lassen und ihn so zu akzeptieren wie er ist, so wie es schon seinen Eltern schwer gefallen sei, die anderen Juden, jene aus „dem Osten“ zu akzeptieren, jene die eben anders aussahen, als sie selbst.

 

Die Familien der Nachkommen haben zu Hohenems und ihrer Geschichte in Österreich eine enge Bindung bewahrt, und zueinander – ganz gleich, ob sie heute in Europa oder in Übersee leben, quer durch die Generationen. Und sie haben eine Kultur der Akzeptanz entwickelt, eine Anerkennung des Andersseins. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, denn so viel Vielfalt wie es in der Welt mit allen Konflikten gibt, so viel Vielfalt ist auch unter ihnen selbst, zwischen Juden und Christen, Amerikanern und Europäern, Israelis und überzeugte Weltbürger, zwischen verschiedenen Nationen und politischen Anschauungen.

Gemeinsam war ihnen am Ende ein sympathisches Zeichen: ein Seidenschal mit einem Muster aus der früheren Rosenthalproduktion, neu gedruckt in Italien und den Gästen verehrt von Wilhelm Otten, dem heute die frühere Rosenthalfabrik gehört.

Er ist nur einer von vielen Menschen, die inzwischen zur community der locals gehören, jene, die von hier Brücken in die Hohenemser Diaspora schlagen, so wie es Menschen wie Harry Weil oder Uri Tänzer, Susan Rosenthal-Shimer oder Pierre Burgauer, Yves Bollag oder Luisa Jaffé-Brunner tun, die inzwischen regelmäßig zu Gast sind in Hohenems, mit dem Museum gemeinsam arbeiten und manchmal auch feiern. Luisa Jaffé in Belgien war es auch, die diese Reunion gemeinsam mit dem Museum auf den Weg brachte. So wie ihr Vater Felix Jaffé zehn Jahre zuvor. Inzwischen sind es mehr von den jungen Nachkommen, die sich für die Idee „Hohenems“, für dieses Utopia einer anderen Form des Umgangs miteinander interessieren. Am Ende in der ehemaligen Rosenthalfabrik waren es die Kinder die ihre eigene Videoshow über vier Tage Hohenems aufführten und kommentierten, Impressionen und Interviews von vier Tagen, die für sie vor allem eine ganz besondere Art von „fun“ bedeutet haben.

Das Feiern – es kam an diesem Wochenende in Hohenems nicht zu kurz. Und wenn auch das nächste Jubiläum – 400 Jahre jüdischer Gemeinde nämlich – erst 2017 ansteht: viele wollen schon vorher wieder vorbei kommen. Für das Museum bleibt viel zu tun.